Nationalpark Thingvellir - Wo sich Geschichte und Geografie vereinen
Es gibt wenig Orte auf der Welt, die so mystisch und faszinierend sind wie der Nationalpark Thingvellir – und dabei fest in Geschichte und Geologie verankert sind. Wo bitte könnt ihr sonst zwischen Kontinentalplatten wandern und auf die Wiege des isländischen Parlaments blicken?
Die Wolkendecke hängt dicht über dem Thingvallavatn. Islands größter See liegt träge und mit glatter Oberfläche im Morgengrauen, während unsere kleine Gruppe fest an einen Durchbruch der Sonne durch die Wolken über dem Nationalpark Thingvellir (isländisch: Þingvellir) glaubt. Wir sind unverschämt früh aufgebrochen, um Thingvellir noch so gut es geht für uns zu haben.
Der Golden Circle ruft: Gullfoss, Geysir und Thingvellir
Denn Celebrity-Status hat eben immer einen Preis: Da der Park zusammen mit dem Wasserfall Gullfoss und den Geysiren von Haukadalur zu einer der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Islands, dem Golden Circle, gehört, zieht es so ziemlich jeden Island-Touristen hierher. Die wollten wir austricksen – und stehen nun also nach knapp 45 Minuten Autofahrt von Reykjavík in unchristlich früher Zeit vor einer grauen Wolken- und Nebelwand. Klasse!
Aber siehe da: Als wir den Aussichtspunkt am Hakid Visitor Centre erreichen, schieben sich tatsächlich erste Sonnenstrahlen zaghaft durch das Grau und zaubern schon bald ein tanzendes Schimmern über den weiten Thingvallavatn. Plötzlich sieht die Welt um uns herum komplett anders, fast magisch schön aus. Dass sich hinter dem funkelnden See nun selbst vier Vulkane imposant in den Himmel heben, ist wie ein High Five der isländischen Götter: Wir werden für die frühzeitige Schlafunterbrechung belohnt, Island meint es gut mit uns!
Thingvellir: Mystische Natur, handfeste Geschichte
Wohin das Auge auch geht: Die Natur erschlägt unsere Sinne fast mit ihren imposanten Dimensionen. Ein Großteil des Gebietes wird von einem Lavastrom aus dem Schildvulkan Skjaldbreidur bedeckt. Das dunkle Lavagestein ist mit tiefgrünen Birkenwäldern, Heidekraut und wilden Heidelbeersträuchern bewachsen. Der Anblick wirkt magisch, fast wie verzaubert. „Wenn gleich Elfen oder Trolle über das Grün wandern, dann zucke ich nicht mal mit den Wimpern“, witzelt jemand in der Gruppe – und ein bisschen Ernst schwingt in der Stimme mit.
Während sich die Wolken mittlerweile langsam zartrosa färben und wir weiter durch die moosbedeckte Szenerie wandern, nimmt die Landschaft um den See herum Kontur an. Wir blicken auf Wiesen, deren Grün von deutlichen Spalten durchzogen sind, die Öxará, die sich an dieser Stelle sanft durch die Landschaft schlängelt – und auf die Wiege des isländischen Parlaments.
Blick auf die Parlamentswiese
Denn genau hier trafen sich im Jahr 930 nach Christus zum ersten Mal über dreißig regierende Häuptlinge. Nicht um zu kämpfen, genau das Gegenteil war der Fall: Die Herren taten sich zusammen, um über das Recht in Island zu diskutieren. Dabei gab es keinen, der das gesamte Parlament beherrschte: Der Gesetzessprecher hatte nur zeremonielle Befugnisse – die Entscheidungen wurden kollektiv getroffen. Klingt nach demokratischem Vorgehen? Volltreffer!-
Erste Demokratieversuche in Island
Das Parlieren der Häuptlinge war ein derartiger Erfolg, dass man es fortan regelmäßig auf dem Thingvellir tun wollte – der Name des ersten demokratischen Parlaments bedeutet wörtlich übersetzt schlichtweg Parlamentswiese. Und es gab scheinbar extrem viel Redebedarf: Denn die neue jährliche Institution, das Althing, entwickelte sich schnell zum beliebten Ort, an dem Reden gehalten, Debatten geführt, Verbrecher verurteilt, Gesetze entworfen und Ehen geschlossen wurden. Schon bald reisten Tausende zur Versammlung an, um zu diskutieren, zu feiern, zu trinken und um Geschichten aus den anderen Teilen des Landes zu hören.
Wir suchen nach Ruinen dieser einstigen Gruppenversammlung und finden tatsächlich ein paar vereinzelte Fundamente. Aber ihr müsst ganz genau hinsehen: Da die Angereisten nur provisorische Unterkünfte auf- und wieder abbauten, gibt es an der Stätte nur wenige Hinweise auf die Zusammenkünfte von damals.
Die dunklen Seiten der Geschichte
Etwas bedröppelt starren wir dafür kurze Zeit später auf ein Informations-Schild mit einer langen Liste Frauennamen. Denn auch wenn die Versammlungen nach jährlichen bunten Partys klingen, hatten sie auch ganz schön dunkle Seiten: In einem tiefen Teil der Öxará befindet sich die Stelle, an der verurteilte weibliche Sträflinge ertränkt wurden – indem sie beschwert mit Steinen in den Fluss geworfen wurden.
Das Althing, lernen wir ebenfalls von den Info-Tafeln, besteht übrigens immer noch! Es wurde unter demselben Namen nach Reykjavík umgesiedelt – was Thingvellir zum ursprünglichen Sitz des am längsten bestehenden und noch immer aktiven Parlaments der Welt macht. Kein Wunder also, dass Thingvellir ein Jahrtausend nach der Gründung 1930 zum Nationalpark erklärt wurde und seit 2004 in der Liste des UNESCO-Welterbes steht.
Vielseitige Tierwelt
Ihr kommt weniger wegen der isländischen Geschichte und mehr wegen der Tierwelt in den Thingvellir Nationalpark? Prima, denn die ist hier besonders vielseitig. Im Thingvallavatn-See leben drei der fünf in Island vorkommenden Süßwasserfischarten: die Bachforelle, der Seesaibling und der Dreistachlige Stichling. Die Vogelbeobachter unter euch werden vor allem im Sommer ihre Freude haben, wenn sich zahlreiche Entenarten, Goldregenpfeifer, Zwergtaucher und Küstenseeschwalben hier tummeln. Und mit ganz viel Glück entdeckt ihr im Unterholz und an den Ufern der Gewässer Polarfüchse und sogar Nerze.
Tanz über die Kontinentalplatten
Wir staunen bei unserer Wanderung vor allem über die geologische Einzigartigkeit des Nationalparks Thingvellir. Wo bitte könnt ihr sonst über eine kleine Brücke zwischen zwei Kontinenten wandern? Denn: Island wird durch den Mittelatlantischen Graben geteilt. Einige Teile davon, wie die Westfjorde und Reykjavík, liegen auf der nordamerikanischen tektonischen Kontinentalplatte – andere, wie der Vatnajökull-Gletscher und die Ostfjorde, liegen auf der Eurasischen Platte. Island ist der einzige Ort auf der Welt, an dem der teutonische Graben über dem Meeresspiegel liegt und nirgendwo sind die Ränder der beiden Platten so sichtbar wie in Thingvellir.
Ein Nationalpark umgeben von Vulkanen
Dass sich die Platten jährlich um gut zwei Zentimeter verschieben, führt zur verstärkten seismischen und vulkanischen Aktivität in Island. Sprich: Die Erde grummelt eigentlich ständig unter den Füßen, wenn auch selten spürbar. Vor etwa 10.000 Jahren war das noch anders. Nach dem Rückzug des Langjökull-Gletschers in seine heutige Position brach im Gebiet von Thingvellir ein Schildvulkan aus. Dabei bildeten sich einige der prägnantesten isländischen Vulkane, die heute die Landschaft um den Nationalpark schmücken.
Typisch Island: Baden in Gletscher-Spalten
Beim Gang entlang der von Schluchten durchzogenen Topografie fühlen wir uns auch glatt wie mitten in einem dramatischen Gemälde: Die Natur hier wirkt spektakulär, die Atmosphäre ist so intensiv und ungewöhnlich, dass man manchmal nicht weiß, wo der Blick zuerst hin soll. Zwischen dem Grau der Steine haben sich in den Spalten und tiefen Rissen stellenweise tiefblaue Seen aus Schmelzwasser des Langjökull-Gletschers gesammelt, das jahrzehntelang unterirdisch durch poröses Vulkangestein geflossen ist. Vor uns schimmert es nun kristallklar im Morgenlicht.
Thingvellir für Schnorchler und Taucher
Die Versuchung hineinzuspringen, ist groß und wirkt ziemlich verrückt – bis direkt vor unseren Augen ein Taucher aus den Klüften emporsteigt. Tauchen oder schnorcheln ist hier möglich, wobei Silfra die beliebteste Stelle ist. Das Gletscherwasser hat einen jahrelangen Weg durch ein dichtes Lavafeld hinter sich, bevor es in der Silfra-Spalte ankommt. Ein Hoch auf die natürliche Filterung der Vulkane! Es gilt als das klarste Süßwasser der Welt mit einer atemberaubenden Unterwassersichtweite von mehr als 100 Metern. Island hält immer wieder Überraschungen für uns bereit.
Wassermassen am Öxarárfoss
Unsere Klamotten bleiben allerdings an – keiner von uns kann Trockenanzüge aus dem Rucksack zaubern: Und ohne die sowie einen Guide ist das Abtauchen nicht erlaubt. Außerdem bildet sich beim Gedanken an eine Wassertemperatur von zwei Grad selbst unter unseren dicken Winterjacken plötzlich Gänsehaut.
Stattdessen wärmt uns bald der berauschende Anblick des Öxarárfoss. Der pittoreske Wasserfall stürzt hier über einen Teil der eingestürzten Kontinentalwand, der Almannagjá-Schlucht. Das tosende Rauschen der Wassermassen prallt am Fuß des Beckens auf abgerundete Felsen, die Gischt funkelt im Licht – ein märchenhaft schöner Bilderbuchanblick, der die Rauheit und Zartheit der isländischen Natur perfekt vereint. Und wir sind sicher, dass wir in den Thingvellir Nationalpark zurückkehren werden. Hier könnt ihr auch ein Ferienhaus in der Nähe finden.
Bilder: Thomas Linkel, Antoine J/Unsplash, Einar Jonsson/Unsplash, Tucker Monticelli/Unsplash, Elli Thor